Ebola mal nachgerechnet

Die Magie der Zahlen

Die oftmals reißerische Berichterstattung zur Ebola-Epidemie in Westafrika in den Massenmedien - und zu einem gewissen Grad auch in Fachpublikationen - hat wahrscheinlich mehr zu einer Verunsicherung als dem Wissensgewinn in der Bevölkerung und der Ärzteschaft beigetragen.
Somit ist es auch nicht verwunderlich, dass diese Infektion oft als außergewöhnlich ansteckend und gefährlich angesehen wird und man glauben mag, dass sie nur von medizinischem Personal in „Weltraumanzügen“ und in Hochsicherheitseinrichtungen („Severe Communicable Disease Units“) zu handhaben ist, welche oberflächlich betrachtet einer Kombination aus High-Tech Gefängnis und Labor ähneln. Doch ist diese Darstellung weit von der Realität entfernt - insbesondere in Afrika.

Auch wenn Komplikationen von Ebola-Viruserkrankungen im Endemiegebiet mit einer hohen Letalitätsrate (Case Fatality Rate, CFR [1]) assoziiert sind, so gilt selbiges auch für viele andere Infektionserkrankungen – von denen einige als weitaus ansteckender angesehen werden müssen.

Leider werden bei der Berichterstattung oft spezifische epidemiologische Fachbegriffe verwendet, ohne den Kontext oder die korrekte Bedeutung zu bedenken – was zu mitunter abstrusen Schlussfolgerungen führt.
So sind viele Menschen besorgt, da oft von einer außergewöhnlich hohen Mortalität (nicht zu verwechseln mit der Inzidenz, Prävalenz oder Letalität) durch eine Ebola-Infektion berichtet wird. Betrachtet man die Wortbedeutung [2] und die publizierten Zahlen, stellt sich jedoch heraus, dass dies nicht der epidemiologischen Realität entspricht.

Um dies zu verdeutlichen, kann ein jeder mit den verfügbaren Zahlen einfache Berechnungen [3] der Mortalität durchführen:

Vereinfachte Schätzung der regionalen Ebola Mortalität im Rahmen des Ausbruchs 2014-2015:
>
Erste Meldung am 22 März 2014 aus Guinea (der Indexfall war jedoch bereits im Dezember 2013).
> Kumulative Anzahl berichteter assoziierter Todesfälle aus Guinea, Sierra Leone, Liberia[4]: 10.311 (22. März 2014 – 22. März 2015).
> Geschätzte Bevölkerung [5] von Guinea (11.745.189), Sierra Leone (6.092.075), Liberia (4.294.077): 22.131.341.
> Rechnung: 10.311 / 22.131.341 = 0,000.465.9 oder 46,59 / 100.000.

Vereinfachte Schätzung der durchschnittlichen globalen Ebola-Mortalität im Zeitraum 1976-2015:
>
10.311 Todesfälle (2014-2015) + 1.590 zuvor berichtete Todesfälle weltweit = 11.901 Tote / 39 Jahre = Durchschnittlich 305 Todesfälle pro Jahr (einschließlich des Ausbruchs 2014-2015).
> Geschätzte durchschnittliche Weltbevölkerung (1976-2015) etwa 5.744.308.233.
> Rechnung: 305 / 5.744.308.233 = 0,000.000.053 oder 0,0053 / 100.000.

Vereinfachte Schätzung der durchschnittlichen globalen Ebola-Mortalität im Zeitraum 1976-2012:
>
1.590 berichtete Todesfälle [6] weltweit in 36 Jahren = 44.2 durchschnittlich pro Jahr (ohne Ausbruch 2014-2015).
> Geschätzte durchschnittliche Weltbevölkerung [7] (1976-2012) etwa 5.622.747.122.
> Rechnung: 44.2 / 5.622.747.122 = 0,000.000.008 oder 0,0008 / 100.000.

Wie unschwer zu erkennen ist, kann eine sinnvolle Interpretation solch statistischer Daten nur in einem spezifischen und definierten epidemiologischen Kontext erfolgen.

Selbstverständlich kann man, um des Vergleiches Willen, einen Blick auf die publizierten globalen Mortalitätsraten (Angabe pro 100.000 Personen) anderer Infektionserkrankungen [8] werfen:

  • Tuberkulose: 17,6 - 21,2
  • Malaria: 9,8 - 14,4
  • Masern: 0,7 - 2,4
  • Tollwut: 0,2 - 0,4

Nimmt man die zuvor berechnete globale Mortalitätsrate der Ebola-Viruserkrankung zum Vergleich, erscheint diese nun sogar eher harmlos – doch natürlich ist solch ein generalisierter Vergleich statistischer Daten weder hilfreich noch zulässig.

Neben der „Mortalität“ durch die Ebola-Viruserkrankung selbst, sollte jedoch auch die Zunahme anderer Infektionserkrankungen bedacht werden, welche im Rahmen des praktischen Kollapses der Gesundheitssysteme in den betroffenen Regionen [9] aufgetreten ist . Dies ist nicht einmal verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Gesundheitssysteme vor Ort bereits zuvor oftmals kaum in der Lage waren, eine allgemeine medizinische Versorgung sicher zu stellen.

Angesichts dieser Betrachtung ist die aktuelle Ebola-Mortalität also vielleicht gar nicht so relevant wie oft dargestellt. Dabei gibt es andere, wohlmöglich bedeutendere Fragen, wie z.B.

  • Wie konnte sich die Epidemie 2014-2015 so „unerwartet“ rasch ausbreiten?
  • Warum ist die berichtete Letalitätsrate (CFR) in der Endemie-Region so hoch?
  • Warum hat die „Weltgemeinschaft“ nicht zeitnah und angemessen reagiert?

Natürlich muss man sich in diesem Zusammenhang eine weitere Frage stellen:
Was sind mögliche unterstützende Faktoren im Rahmen eines Ausbruchs von Infektionskrankheiten wie z.B. Ebola?

  • Unzureichende Quantität, Qualität und Erreichbarkeit von medizinischen Einrichtungen (insb. zur Diagnose, Isolation, Behandlung)?
  • Mangelndes Wissen und inadäquate Ressourcen um grundsätzliche Hygienemaßnahmen (im Sinne einer Prävention) zu gewährleisten, einschließlich elementarer Voraussetzungen wie z.B. sauberes Trinkwasser, sanitäre Einrichtungen oder Strom?
  • Eine späte Einlieferung erkrankter Personen in medizinische Einrichtungen, also wenn diese Personen bereits in einem fortgeschrittenen Erkrankungsstadium sind?
  • Hohe Prävalenz von (oftmals unbehandelten) Vorerkrankungen in den betroffenen Regionen, welche das Auftreten von Komplikationen der Ebola-Viruserkrankung fördern (z.B. Malaria, Hepatitis, HIV/AIDS, Schistosomiasis, Mangelernährung und viele weitere)?
  • Ein inadäquates Gesundheitssystem und eine generell gering entwickelte Infrastruktur?
  • Eine Zerstörung natürlicher Habitate, was zu einem häufigeren und engeren Kontakt zu möglichen natürlichen Reservoiren von potentiell humanpathogenen Erregern führt?
  • Traditionelle Bestattungsriten, die mit einem erhöhten Übertragungsrisiko verbunden sind, sowie das traditionelle Verspeisen von „Bushmeat“?
  • Ein gewachsenes Misstrauen, Furcht, Volksglaube und Mystizismus in der Bevölkerung?
  • Ein unkontrollierter Verkehr über Ländergrenzen hinweg?
  • Eine ineffektive Verwaltung und eine verbreitete Korruption?
  • Spezifische biologische Merkmale bestimmter Erreger?

Auch wenn all diese Punkte relevant sind, so sind sie keineswegs spezifisch für die Ebola-Viruserkrankung, sondern verweisen insbesondere auf grundlegende soziale und politische Probleme.

Ebola ist nicht allein

Die berichtete Letalitätsrate (CFR) im Rahmen des Ebola-Ausbruchs 2014-2015 in Westafrika liegt bei etwa 60%.
Betrachtet man jedoch die Letalitätsrate bei in die USA und Europa „importierten“ Ebola-Erkrankten, so stellt sich heraus, dass von 24 Patienten 5 verstorben sind[10]. Dies entspräche (so eine solche Schlussfolgerung zulässig wäre) einer Letalitätsrate von etwa 21% - und wäre damit durchaus im Bereich der Letalitätsrate bei Komplikationen diverser anderer Infektionskrankheiten.
Doch wie schlagen sich andere, weitaus häufiger auftretende Infektionserkrankungen aus epidemiologischer Sicht im Vergleich zu Ebola?
Nimmt man beispielsweise als Maß der Ansteckungsgefahr die Basisreproduktionszahl (R0, die Anzahl sekundär Infizierter in einer suszeptiblen Population, pro infizierter Person) und vergleicht verfügbare Zahlen, so stellt sich wieder erstaunliches dar [11, 12, 13, 14, 15]:

Erkrankung R0
Masern 12 - 18
Keuchhusten 12 - 17
Diphtherie 6 - 7
Poliomyelitis 5 - 7
Röteln 5 - 7
Pocken 5 - 7
Mumps 4 - 7
Influenza 1,4 - 4
SARS 2,5
HIV 2,5
Ebola 0,8 - 2,5

Natürlich kann man einen solchen Vergleich weiter treiben und fragen, wie sich die Ebola-Virusinfektion im Vergleich zu einer „Kinderkrankheit“ wie z.B. Masern darstellt?

  Ebola Masern
Übertragung: Kontakt zu infektiösen Körperflüssigkeiten Hochinfektiös, auch durch Luft und Oberflächenkontamination übertragbar
R0: 0,8 - 2,5 12 - 18
Assoziierte Todesfälle pro Jahr: Variabel (2014: Etwa 11.300) Jährlich etwa 150.000, obgleich einer weltweiten Immunisierungsrate von etwa 84% [16]
CFR: Unbekannt (23-88% beschrieben) Bis zu 25%
Behandlung: Symptomatisch Symptomatisch
Impfstoff vorhanden: Nein Ja

Bei einer solchen Betrachtung wird es zunehmend schwierig festzustellen, welche Infektion „gefährlicher“ ist – wobei dies natürlich primär eine Frage der Perspektive und nicht der Statistik ist.

Sind wir "eine Welt"?

Die Darstellung der Ebola-Viruskrankheit in der „entwickelten“ Welt ist leider oft wenig differenziert und bezieht die Perspektiven der betroffenen Regionen nur selten mit in die Betrachtung ein.

Angesichts des häufig anzutreffenden Unwillens einmal „über den Tellerrand hinauszuschauen“ und sich stattdessen lieber an die Magie vermeintlich eindeutiger Zahlen zu klammern, ist dies durchaus Verständlich.
Jedoch ist es mit einer offenen Herangehensweise nicht besonders schwierig Faktoren auszumachen, welche zur Zurückhaltung der „internationalen Gemeinschaft“ bei der Unterstützung in Krisensituationen, wie dem Ebola-Ausbruch 2014-2015 beitragen.

Dabei wird auch deutlich, dass auch der Ebola-Ausbruch keineswegs ein isoliertes medizinisches Ereignis ist, sondern sich aus verschiedenen zugrundeliegenden Problemfeldern erklären lässt. Hierzu zählen u.a. tief verwurzelte sozio-ökonomische, politische, ethnische (mitunter auch rassistische), juristische, ethische und selbstverständlich schnöde monetäre Auslöser – die sich kaum im Rahmen eines akuten Krisenmanagements lösen lassen.
Wie sollte eine „globale Intervention“ aussehen, wenn die Probleme so vielgestaltig sind und den „Helferstaaten“ die krasse Diskrepanz der Realität vor Ort kaum bewusst zu sein scheint?

Aus unserer Erfahrung ergeben sich immer wieder ähnliche Missverständnisse beim perspektivischen „Clash der Kulturen“, wie z.B.:

  • Ein Misstrauen gegenüber Ausländern in den betroffenen Regionen ist praktisch unvermeidbar, wenn man sich allein die lange und ruhmlose Geschichte des Kolonialismus und der Sklaverei vor Augen führt, welche über Jahrhunderte (nicht nur) den afrikanischen Kontinent verwüstet hat.
  • Nachhaltige und langfristige Lösungen können zweifelsohne nur implementiert werden, wenn sie von der betroffenen Gesellschaft verstanden, akzeptiert und im täglichen Leben umgesetzt werden. Hierbei müssen stets die Auswirkungen auf die kulturelle und spirituelle Identität der Menschen berücksichtigt werden. Europäer und Amerikaner erscheinen vor diesem Hintergrund nicht die optimale Wahl, um einer einheimischen und heterogenen Bevölkerung ihrer Ansicht nach sinnvolle Maßnahmen zu vermitteln.
  • Inwieweit sind internationale Interventionen überhaupt realisierbar, wenn die betroffene Region von politischer Instabilität, Armut, Konflikten und Korruption gebeutelt wird, wie es leider oft eher die Regel als die Ausnahme ist?
  • Kann interne Stabilität überhaupt dauerhaft durch äußere Einflussnahme erreicht werden? Wie weit kann und soll die „Weltgemeinschaft“ gehen – Entwicklungshilfe, Unterstützung von NGO’s, politische Sanktionen… sogar bis hin zu militärischen Interventionen?
  • Nicht zu vergessen: Was ist die „Weltgemeinschaft“?
  • Wird die „erste“ Welt ihrer ethischen Verantwortung gerecht? Was bedeuten Begriffe wie „Mitgefühl“, „Respekt“ oder „Menschenrechte“ im politischen Alltag?
  • Was sind die ethischen Auswirkungen, wenn im Rahmen von Epidemien Medikamente getestet werden – was sonst als „Menschenversuch“ geächtet würde? Wer soll begrenzt verfügbare und ungetestete Medikamente erhalten?
  • Wer entscheidet über die Ressourcenverteilung? Was, wenn man selbst die Entscheidung fällen müsste, mit den verfügbaren Mitteln entweder sauberes Trinkwasser oder ein Ebola-Behandlungszentrum zur Verfügung zu stellen?
  • Was sind die juristischen, wirtschaftlichen und ethischen Auswirkungen von z.B. angeordneter Quarantäne oder Grenzschließungen?
  • Was geschieht, wenn der „Ebola-Hype“ vorbei ist? [17] Gibt es eine weitere Verwendbarkeit hastig errichteter Ebola-Behandlungszentren, die wohlmöglich nie einen Ebola-Patienten oder adäquates medizinisches Personal sehen werden? [18, 19]
  • Nachhaltige regionale Lösungsstrategien mit langfristigem Effekt bedürfen einer adäquaten Ausbildung lokaler Akteure (u.a. Ärzte, Pfleger, Community Health Worker, Verwalter, Politiker) vor Ort in den Grundlagen der Hygiene und den Prinzipen von Infektionserkrankungen, sowie der Unterstützung (nicht der Übernahme oder Bezahlung) beim Aufbau und der Erhaltung einer funktionierenden Infrastruktur.
  • Die wohl wichtigste globale Bedeutung liegt letztlich in der Verhinderung der Ausbreitung von Infektionserkrankungen auf nicht-endemische Regionen. Hierbei ist zu bedenken, dass tragischer Weise gerade ausländische medizinische Helfer, welche ihre Zeit und Kraft der Hilfe vor Ort gewidmet haben, die vornehmliche und gefährlichste Risikogruppe der internationalen Ausbreitung darstellen. Wer sonst kommt sowohl regelmäßig in Kontakt zu Erkrankten und reist international?

Bei der Betrachtung des gegenwärtigen Dilemmas lässt sich nur schwerlich ein Resümee ziehen, wenn man bereits bei der Frage ob nun Ebola oder die Masern gefährlicher sind, ins Stocken gerät.

Was bleibt, ist in jedem Fall eine nicht unbedingt neue philosophische Erkenntnis:
Es ist ratsam, sich vor Zahlen zu fürchten, auch wenn sie Geschenke bringen – und der Versuch das Leben und Sterben auf Erden zu begreifen, ist nicht mit einer eingeengten oder auf Zahlenspiele reduzierten Betrachtungsweise vereinbar.
Wünschenswert ist eine evidenzbasierte Betrachtung und Hilfe bei Infektionskrankheiten, welche politische und wirtschaftliche Aspekte unberücksichtigt lässt und einheitlichen ethischen Standards unterworfen ist.


(17. Mai 2015 - tho)

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